Astonishing X-Men: Gifted TPB 1
Gastrezension von LEGACY. Sehr vielen Dank!
Written by Joss Whedon pencils by John Cassaday (Marvel). Deutsch: "X-Men" #54-#55 (PaniniComics Deutschland)
Erstaunlich modern, erfrischend antiquiert – Die X-Men als zeitloses Phänomen
Mit dem Erscheinen von Panini´s X-Men (vol.2) # 054 ist nun auch in Deutschland ein überschwänglicher Lobgesang auf diese Serie entflammt. Dieser Artikel soll nicht ein simpler Teil dieser (einseitigen) Diskussion werden und beschäftigt sich deshalb weniger mit dem Inhalt der Serie, als mit deren Bedeutung (für mich und vielleicht auch für den einen oder anderen da draußen..!)
„We Are Family!“
Was ich vielleicht vorausschicken muss, ist meine unabdingbare Leidenschaft zum Medium Comic, insbesondere der Hefte aus dem Superheldengenre des Verlagshauses Marvel. Moderne Mythen verschmelzen in detaillierten Standbildern mit Heldenepen und Seifenopern. Einen ganz besonderen Stellenwert in dieser Welt der bunten Superhelden mit Alltagsproblemchen im All und Liebesnöten unter Lebensgefahr hatte für mich seit Sammelbeginn die Mutantenfamilie der X-Men!
Ja, ich oute mich hiermit als frenetischen X-Maniac!
Als eines der umsatzkräftigsten Flaggschiffe aus dem Haus der Ideen stets irgendwie im Rampenlicht verankert, bilden Xaviers Schüler seit der „Second Genesis“ der all-new all different X-Men im Jahre 1975 einen der Stützpfeiler des gesamten Marvel-Universums.
Die unzähligen Figuren aus den diversen Haupt- und Nebenserien, in deren Titel sich meistens ein verkaufsförderndes X verbirgt, sind eine liebgewordene Ansammlung an Charakteren, deren Leben, Siege und Niederlagen ich Monat für Monat verfolgen möchte und mittlerweile sogar muss... jeder Fan behauptet, seine Lieblingshelden in- und auswendig zu kennen und findet sich beim Lesen bald in den 4 Wänden einer sonderbaren Familie wieder, deren voyeuristisches Mitglied man zu sein scheint.
Diese Vertrautheit geht sogar soweit, dass ich solch katastrophale Familienfeste wie „The Twelve“ oder sonderbare Verwandte wie Chuck Austen ohne allzu großes Murren über mich habe ergehen lassen. Denn in jeder Familie gibt es schwarze Schafe und Zeiten, in denen man sich wünscht, diese peinlichen Auftritte seiner Blutgemeinschaft auf ewig aus seinem Gedächtnis brennen zu können.
Ich hole bewusst so weit aus, um zu zeigen, dass ich „meine“ X-Men nicht als temporäre Abschnitte generationsprägender Epochen erlebe, sondern im großen Ganzen... in einer retcon-freien und continuitygerechten Ganzheit, die unabhängig von Storybögen oder Kreativteams existieren: Die X-Men als zeitloses Phänomen!
„Joss, John und Grant… Visionäre im Mainstream!“
Joss Whedon (Autor) und John Cassaday (Zeichner) hatten die schwere Bürde, den gefeierten Run von Grant Morrison zu beerben, der mit seinen „New X-Men“ neue Maßstäbe in punkto Modernität, Innovation und Realismus in die Mutantenwelt torpedierte. Für viele Fans war dieser chirurgische Eingriff zuviel des Guten, doch ich erachte Morrisons ersten 3-Teiler „E is for Extinction“ für einen Meilenstein der X-Historie, der für sich betrachtet in allen Einzelheiten die X-Men im Kern widerspiegelt und diese gleichzeitig treffsicher auf eine neue Stufe der Evolution erhebt (auch auf kreativer Ebene)! Morrison´s New X-Men sollen hier aber kein Thema sein, und dennoch ist es wichtig, zu wissen, wie die letzte Etappe einer Reise aussah, um sich über den weiteren Weg auszulassen...
Morrison und seine Zeichner-Armada schufen eine X-Men-Matrix, ganz im Sinne und der Ästhetik der Zeit. Die X-Welt wurde pragmatisch, philosophisch, pervers und mitunter penetrant! Kein Wunder also, dass die beiden anderen X-Hauptserien thematisch eher im seichten Gewässer der Austen-Soft-Pornos oder im Claremont-Nostalgie-Retro-80er-Revival-Gesülze fischten, um einen nötigen Ausgleich zu schaffen.
Dann kam der RELOAD! Eine Initialzündung, die sich einmal mehr wie ein strategischer Verkaufshype ausmachte, sich jedoch als nötige kreative Umstrukturierung herausstellte. Die X-Men waren in einer Sackgasse angelangt, in der selbst Grant Morrison nach seinem grandiosen „Planet X“ ein pseudofuturistisches Fragezeichen „für das Morgen“ als Epilog hinterließ.
Joss Whedon, u.a. bekannt als Erfinder von Buffy schien eine ungewöhnliche Wahl, passte jedoch in das Erfolgskonzept von Marvel-EIC Joe Quesada, durch Hollywood- und TV-Autoren frischen Wind in die Sprechblasen zu fönen.
John Cassaday, geliebt durch seine göttlichen Striche in den Planetary-Comics, ließ nicht nur mich wie ein kleines Schulmädchen aufschrein, in der Ahnung, seine cineastischen Stilleben nun auch bei den Mutanten zu genießen.
Dieses neue Team, welches sich schon im ersten Heft als kongeniales, perfekt aufeinandereingestelltes Duo erweisen sollte übernahm also eine neue Serie im Zuge des RELOAD: THE ASTONISHING X-MEN!
“Nicht ohne meine Kitty!”
Nachdem sich der geneigte Continuity-Leser durch Uncanny X-Men # 444 kämpfen musste (ebenfalls ein Heft des RELOAD; dort wurde der neue Status Quo – ein neues X-Mansion, Cyclops und Emma Frost als Head-Of-School, neue Kostüme – erstmals vorgestellt), erlebte dieser 2 Wochen später die Perfektion in Gestalt von AXM # 001.
Whedon hatte freie Wahl, als es darum ging, welche X-Men er in seinem Kader benutzen wollte: Cyclops, Emma Frost, Beast, natürlich Wolverine, der in keinem X-Heft fehlen darf und Kitty Pryde, welche Whedons Lieblingschatakter ist, und von deren Abkömmlichkeit er es sogar abhängig machte, diesen Run zu übernehmen.
So nimmt es auch nicht wunder, dass er Kitty an den Anfang seiner Geschichte setzt und sie uns als Identifikationsfigur präsentiert. Kitty kommt nach Hause! Nach einer langen Abstinenz, die sie mit Studien in Chicago verbrachte, betritt Kitty wieder ihr jahrelanges Zuhause, in dem sie den Grossteil ihrer Jugend verbrachte. Soviel ist neu, da nach dem wiederholten Niederreißen der Greymalkin-Mauern das X-Institut in völlig neuem Glanze daherkommt, und doch ist Kitty überwältigt von Erinnerungen an die Zeit (perfekt eingefangen durch ein einziges Panel von John Cassaday), in der sie einst Schüler in diesem Hause war... nun soll sie hier unterrichten! Ein Kreis schließt sich und ermöglicht einen Neuanfang.
Als Leser hatte ich das Gefühl, auch endlich wieder nach Hause zu kommen. Mit nur wenigen Seiten und noch subtileren Mitteln schaffen es Whedon und Cassaday mir zu vermitteln, was ich im ersten Absatz zu erklären versuchte: Die X-Men sind zeitlos... sie sind Gefährten und sie haben eine Geschichte, die mir so sehr vertraut scheint, dass ich, wenn ich die richtigen Schlüsselreize serviert bekomme, in diesem Heften tatsächliche Nähe zu den Characteren verspüre.
Kitty wurde zum Thanksgiving eingeladen, und ich rieche noch immer den Truthahn!
„Wir müssen sie erstaunen!”
Ein großer Kritikpunkt an den Heften von Whedon und Cassaday war die Rückkehr der individuellen Kostüme!
Gerade unter Casey und Morrison verwandelten sich die X-Men zu einer uniformierten, heterogen-auftretenden Einsatztruppe, die vollkommen dem Sinne der Zeit entstanden, und nicht zuletzt als Anlehnung an die Kostüme im weltweit erfolgreichen ersten X-Men-Film zu sehen sind. Bei Morrison herrschte Krieg: Die Menschheit drohte vom Homo Sapiens Superior ausgelöscht zu werden und die daraus resultierenden Konflikte zwangen die X-Men zu derart drastischen Stilmitteln. Nach dem „Outing“ von Xavier und des X-Institutes als „Hafen für Mutanten“ standen die X-Men einmal mehr im Focus sämtlicher Fadenkreuze.
Mit dem RELOAD übernahmen die „geouteten“ X-Men nun eine nicht minder offensive Einstellung ein, die sich jedoch in ihrem Motiv deutlich unterscheiden sollte! Der Krieg war noch nicht vorbei, jedoch sollte die Welt nun keine Soldaten mehr zu fürchten haben, sondern die X-Men endlich als das sehen, was sie im Herzen sind: SUPERHELDEN!
Aus der Guerilla-Truppe wird eine PR-Abteilung!
Die Erklärung von Cyclops, warum man zu den Kostümen zurückkehrt, ist so schlicht und simpel, dass diese Naivität schon fast wieder logisch erscheint: Die Menschen vertrauen den Rächern, den Fantastischen Vier, ihren Superhelden (Spider-Man vielleicht einmal ausgenommen, aber der hat auch keinen guten Pressesprecher)... Superhelden tragen bunte, vertrauenserweckende Kostüme, wenn es die X-Men schaffen, in der Öffentlichkeit in erster Linie als Superhelden angesehen werden, und erst dann als Mutanten, wäre die Akzeptanz auf langer Sicht irgendwann gewährleistet. Ein kühner Akt der Hoffnung, aber wohl nach dem düsteren Kapitel der Morrison-Ära ein nachvollziehbarer und umso notwendiger!
„Mutation... eine Krankheit?“
Die Prämisse des ersten Handlungsbogens, dessen Titel im Original „Gifted“ (talentiert, begabt, beschenkt) lautet, offenbart die größte Bedrohung, die je auf die X-Men, auf die weltweite Gesellschaft der Mutanten losgelassen wurde: Ein Heilmittel gegen das X-Gen!
Dieser Ansatz ist keineswegs neu, gab es in der über vierzigjährigen Geschichte der X-Men immer wieder Schlupflöcher, in denen die Mutationen (für kurze) Zeit ausgeknippst werden konnten. Hier geht Whedon aber den letzten konsequenten Schritt und verspricht durch eine Wissenschaftlerin endgültige Heilung des Mutationsfluches.
Als die X-Men davon erfahren, ahnen sie, worauf dies hinaufläuft: Massenunruhen! Geächtete Mutanten, die darin endlich ihre Chance sehen, „geheilt“ zu werden... Bigotte Menschen, die jetzt die ultimative Waffe im Krieg gegen die Mutanten in ihren Händen wissen.
Und tatsächlich... nie war das Interesse an einem definitiven Ende der Mutanten-„Bedrohung“ grösser! Sogar ein Mitglied der X-Men scheint der Versuchung, die Fesseln seiner Erscheinung loswerden zu können, zu erliegen...
Doch Whedon hätte seine erste Geschichte nicht „Gifted“ genannt, wenn sich darin nicht die Hoffnung verbürge, sich selbst so zu akzeptieren und alle seine Fähigkeiten und phenotypischen Erscheinungen als Geschenk zu betrachten...
„Die Feder ist wahrhaft mächtiger als das Schwert!“
Die größte Stärke von Whedon liegt in seinem „Gift“ (Talent, Begabung, Geschenk), Dialoge so treffsicher zu pointieren, dass jede einzelne Sprechblase zum Schrein für brillanten Wortwitz und Tiefgang transformiert.
Jeder einzelne Charakter wird alleine durch sein gesagtes so wunderbar portraitiert, dass es eine wahre Freude ist, jedem Wortgefecht zu folgen.
Aber auch hier darf man den Anteil von Zeichner Cassaday nicht unterschätzen, der die Protagonisten mit einer kongenialen Mimik ausstattet, dass die Worte nicht nur gelesen, sondern erlebt werden können.
(Ich konnte im Vorfeld bereits einen Script-Auszug lesen – dem Internet sei Dank – ohne die Zeichnungen von Cassaday vorliegen zu haben und muss sagen, ohne visuelle Unterstützung wirkten sie nicht nur lediglich halb so treffsicher sondern auf eigenartige Weise auch total klischeehaft und fade: ein weiterer Beweis, dass man in einem perfekten Comic eine reibungslose Symbiose zwischen Autor und Zeichner benötigt, damit Wort und Bild zu einer harmonischen Einheit verschmelzen.)
Höhepunkte der Wortgefechte bilden die Fehdedialoge zwischen Emma und Kitty. Die beiden halten mit ihrer jeweiligen Meinung nicht hinterm Berg und dieser „Zickenkrieg“ ist eine wahre Wonne. Rasiermesserscharf sezieren sie das Gegenüber und überbieten sich mit jedem Satz.
„Ord vom Ork, oder woher auch immer...!“
Okaaay, wieder eine neue Alienrasse! Ord von Beakworld! Kollaborant in der Herstellung des Heilmittels und eine ganz schön fiese Möpp! Auch hier ist man, wie bei allen Elementen der Handlung, wenn man sie wiedergeben soll, gewillt, Whedon Einfallslosigkeit und Eintönigkeit zu unterstellen. Und irgendwie war ich am Ende auch nicht ganz im Klaren, wohin uns dieser Charakter eigentlich mitnehmen sollte.
Die X-Men sollen in naher Zukunft dafür verantwortlich sein, dass Ords gesamte Rasse ausgelöscht wird. Dieses will er natürlich verhindern und entwickelt zusammen mit obengenannter Wissenschaftlerin das Heilmittel. Hinzukommt eine neuformierte Schattengruppe von S.H.I.E.L.D. mit der aggressiven Abkürzung S.W.O.R.D., die auch noch kräftig mitmischt.
An dieser Stelle kann ich getrost sagen, dass mich die Handlung der ersten 6 Hefte im Grunde recht kalt lässt, wenn man sie auf die Details runterdividiert. Was auch daran liegen kann, dass vielen Handlungsstränge nicht wirklich aufgelöst werden und in versteckten Antiklimax-Cliffhangern auf kommende Handlungsbögen hinweisen.
Aber wie gesagt: In diesen Heften zählt in erster Linie das „WIE“, nicht das „WAS“! Und so bleibe ich gespannt, ob ich der Handlung besser folgen kann, wenn das Gesamtwerk von Whedon und Cassaday vorliegen habe!
„He´s Back!“
Der verschleierte, rote Faden ist aber auch mit Abstand das einzige, was ich den beiden Künstlern und ihren Heften bislang nachhalten kann. Alles andere ist Perfektion in Reinform!
So ist die Auferstehung eines totgeglaubten Ex-X-Man auch in dieser Widersprüchlichkeit zu beleuchten. Einerseits kann ich selbst nach mehrmaligem Lesen nicht mit vollstem kognitiven Verständnis sagen, warum, weshalb oder wieso dieser Fan-Liebling wieder von den Toten auferstand (irgendwie ist er Laborratte in der Entwicklung des Heilmittels gewesen), ein der zwei Fragen sind einfach noch offen! Aber das „WIE“ ist einfach, um mich in Wiederholungen zu ergehen, PERFEKT!
Nicht nur, dass die gesamte Leserschar von der Marketing-Abteilung Marvels zum Narren gehalten wurde – so war kurz vor Erscheinen der Wiederbelebungsnummer (AXM#4) im Internet das hartnäckige Gerücht zu lesen, Jean Grey käme einmal mehr zurück. Ausgelöst wurde dieses Gerücht von Marvel selbst, die Cassaday kurzerhand eine Seite mit Jeans Rückkehr zeichnen ließen, um die Leser auf eine falsche Fährte zu schicken.
Auch ich fiel prompt darauf hinein und ertappte mich schon beim kopfschüttelnden Nase-Rümpfen!
Umso größer war dann die Überraschung am Ende der #4! Und auch hier sei das scheinbar grenzenlose Talent von Cassaday zu erwähnen, der mit nur 4 Paneln Gänsehaut auf meinen ganzen Körper zaubern konnte. Ich saß noch minutenlang mit offenen Mund vor diesen beiden Seiten! Ein Erlebnis, welche kein anderes Comic bislang bei mir auszulösen vermochte...
Und wieder scheint es so, als würde Kitty Pryde einfach nur ein Spiegel sein, in dem ich mich als Leser wiederfinde...
„Quo Vadis...?“
Die Astonishing X-Men sind in meinen Augen die Quintessenz aller bisherigen X-Abenteuer. In ihnen vereint sich all das, was die X-Men zu einer der beliebtesten Franchises im Haus der Ideen werden ließ: vertraute, tiefe Charaktere, kosmische Bedrohungen, eine fette Portion Seifenoper, Zusammengehörigkeit und viel viel Liebe zum Detail! Vergessen sind die langweiligen, schlechtkonzipierten und belanglosen Kapitel der Vergangenheit. Beim Lesen der AXM # 001 - # 006 hatte ich das Gefühl, die X-Men zu verstehen, die X-Men zu fühlen, und all die schönen Erinnerungen aus vergangenen Familienfotoalben erwachten zu neuem Leben.
Und ich bin optimistisch, dass Whedon und Cassaday dieses intensive Gefühl in ihren weiteren gemeinsamen, erstaunlichen Heften fortführen, die glücklicherweise schon bis zur #024 bestätigt wurden!
Henning Mehrtens a.k.a. LEGACY
„We Are Family!“
Was ich vielleicht vorausschicken muss, ist meine unabdingbare Leidenschaft zum Medium Comic, insbesondere der Hefte aus dem Superheldengenre des Verlagshauses Marvel. Moderne Mythen verschmelzen in detaillierten Standbildern mit Heldenepen und Seifenopern. Einen ganz besonderen Stellenwert in dieser Welt der bunten Superhelden mit Alltagsproblemchen im All und Liebesnöten unter Lebensgefahr hatte für mich seit Sammelbeginn die Mutantenfamilie der X-Men!
Ja, ich oute mich hiermit als frenetischen X-Maniac!
Als eines der umsatzkräftigsten Flaggschiffe aus dem Haus der Ideen stets irgendwie im Rampenlicht verankert, bilden Xaviers Schüler seit der „Second Genesis“ der all-new all different X-Men im Jahre 1975 einen der Stützpfeiler des gesamten Marvel-Universums.
Die unzähligen Figuren aus den diversen Haupt- und Nebenserien, in deren Titel sich meistens ein verkaufsförderndes X verbirgt, sind eine liebgewordene Ansammlung an Charakteren, deren Leben, Siege und Niederlagen ich Monat für Monat verfolgen möchte und mittlerweile sogar muss... jeder Fan behauptet, seine Lieblingshelden in- und auswendig zu kennen und findet sich beim Lesen bald in den 4 Wänden einer sonderbaren Familie wieder, deren voyeuristisches Mitglied man zu sein scheint.
Diese Vertrautheit geht sogar soweit, dass ich solch katastrophale Familienfeste wie „The Twelve“ oder sonderbare Verwandte wie Chuck Austen ohne allzu großes Murren über mich habe ergehen lassen. Denn in jeder Familie gibt es schwarze Schafe und Zeiten, in denen man sich wünscht, diese peinlichen Auftritte seiner Blutgemeinschaft auf ewig aus seinem Gedächtnis brennen zu können.
Ich hole bewusst so weit aus, um zu zeigen, dass ich „meine“ X-Men nicht als temporäre Abschnitte generationsprägender Epochen erlebe, sondern im großen Ganzen... in einer retcon-freien und continuitygerechten Ganzheit, die unabhängig von Storybögen oder Kreativteams existieren: Die X-Men als zeitloses Phänomen!
„Joss, John und Grant… Visionäre im Mainstream!“
Joss Whedon (Autor) und John Cassaday (Zeichner) hatten die schwere Bürde, den gefeierten Run von Grant Morrison zu beerben, der mit seinen „New X-Men“ neue Maßstäbe in punkto Modernität, Innovation und Realismus in die Mutantenwelt torpedierte. Für viele Fans war dieser chirurgische Eingriff zuviel des Guten, doch ich erachte Morrisons ersten 3-Teiler „E is for Extinction“ für einen Meilenstein der X-Historie, der für sich betrachtet in allen Einzelheiten die X-Men im Kern widerspiegelt und diese gleichzeitig treffsicher auf eine neue Stufe der Evolution erhebt (auch auf kreativer Ebene)! Morrison´s New X-Men sollen hier aber kein Thema sein, und dennoch ist es wichtig, zu wissen, wie die letzte Etappe einer Reise aussah, um sich über den weiteren Weg auszulassen...
Morrison und seine Zeichner-Armada schufen eine X-Men-Matrix, ganz im Sinne und der Ästhetik der Zeit. Die X-Welt wurde pragmatisch, philosophisch, pervers und mitunter penetrant! Kein Wunder also, dass die beiden anderen X-Hauptserien thematisch eher im seichten Gewässer der Austen-Soft-Pornos oder im Claremont-Nostalgie-Retro-80er-Revival-Gesülze fischten, um einen nötigen Ausgleich zu schaffen.
Dann kam der RELOAD! Eine Initialzündung, die sich einmal mehr wie ein strategischer Verkaufshype ausmachte, sich jedoch als nötige kreative Umstrukturierung herausstellte. Die X-Men waren in einer Sackgasse angelangt, in der selbst Grant Morrison nach seinem grandiosen „Planet X“ ein pseudofuturistisches Fragezeichen „für das Morgen“ als Epilog hinterließ.
Joss Whedon, u.a. bekannt als Erfinder von Buffy schien eine ungewöhnliche Wahl, passte jedoch in das Erfolgskonzept von Marvel-EIC Joe Quesada, durch Hollywood- und TV-Autoren frischen Wind in die Sprechblasen zu fönen.
John Cassaday, geliebt durch seine göttlichen Striche in den Planetary-Comics, ließ nicht nur mich wie ein kleines Schulmädchen aufschrein, in der Ahnung, seine cineastischen Stilleben nun auch bei den Mutanten zu genießen.
Dieses neue Team, welches sich schon im ersten Heft als kongeniales, perfekt aufeinandereingestelltes Duo erweisen sollte übernahm also eine neue Serie im Zuge des RELOAD: THE ASTONISHING X-MEN!
“Nicht ohne meine Kitty!”
Nachdem sich der geneigte Continuity-Leser durch Uncanny X-Men # 444 kämpfen musste (ebenfalls ein Heft des RELOAD; dort wurde der neue Status Quo – ein neues X-Mansion, Cyclops und Emma Frost als Head-Of-School, neue Kostüme – erstmals vorgestellt), erlebte dieser 2 Wochen später die Perfektion in Gestalt von AXM # 001.
Whedon hatte freie Wahl, als es darum ging, welche X-Men er in seinem Kader benutzen wollte: Cyclops, Emma Frost, Beast, natürlich Wolverine, der in keinem X-Heft fehlen darf und Kitty Pryde, welche Whedons Lieblingschatakter ist, und von deren Abkömmlichkeit er es sogar abhängig machte, diesen Run zu übernehmen.
So nimmt es auch nicht wunder, dass er Kitty an den Anfang seiner Geschichte setzt und sie uns als Identifikationsfigur präsentiert. Kitty kommt nach Hause! Nach einer langen Abstinenz, die sie mit Studien in Chicago verbrachte, betritt Kitty wieder ihr jahrelanges Zuhause, in dem sie den Grossteil ihrer Jugend verbrachte. Soviel ist neu, da nach dem wiederholten Niederreißen der Greymalkin-Mauern das X-Institut in völlig neuem Glanze daherkommt, und doch ist Kitty überwältigt von Erinnerungen an die Zeit (perfekt eingefangen durch ein einziges Panel von John Cassaday), in der sie einst Schüler in diesem Hause war... nun soll sie hier unterrichten! Ein Kreis schließt sich und ermöglicht einen Neuanfang.
Als Leser hatte ich das Gefühl, auch endlich wieder nach Hause zu kommen. Mit nur wenigen Seiten und noch subtileren Mitteln schaffen es Whedon und Cassaday mir zu vermitteln, was ich im ersten Absatz zu erklären versuchte: Die X-Men sind zeitlos... sie sind Gefährten und sie haben eine Geschichte, die mir so sehr vertraut scheint, dass ich, wenn ich die richtigen Schlüsselreize serviert bekomme, in diesem Heften tatsächliche Nähe zu den Characteren verspüre.
Kitty wurde zum Thanksgiving eingeladen, und ich rieche noch immer den Truthahn!
„Wir müssen sie erstaunen!”
Ein großer Kritikpunkt an den Heften von Whedon und Cassaday war die Rückkehr der individuellen Kostüme!
Gerade unter Casey und Morrison verwandelten sich die X-Men zu einer uniformierten, heterogen-auftretenden Einsatztruppe, die vollkommen dem Sinne der Zeit entstanden, und nicht zuletzt als Anlehnung an die Kostüme im weltweit erfolgreichen ersten X-Men-Film zu sehen sind. Bei Morrison herrschte Krieg: Die Menschheit drohte vom Homo Sapiens Superior ausgelöscht zu werden und die daraus resultierenden Konflikte zwangen die X-Men zu derart drastischen Stilmitteln. Nach dem „Outing“ von Xavier und des X-Institutes als „Hafen für Mutanten“ standen die X-Men einmal mehr im Focus sämtlicher Fadenkreuze.
Mit dem RELOAD übernahmen die „geouteten“ X-Men nun eine nicht minder offensive Einstellung ein, die sich jedoch in ihrem Motiv deutlich unterscheiden sollte! Der Krieg war noch nicht vorbei, jedoch sollte die Welt nun keine Soldaten mehr zu fürchten haben, sondern die X-Men endlich als das sehen, was sie im Herzen sind: SUPERHELDEN!
Aus der Guerilla-Truppe wird eine PR-Abteilung!
Die Erklärung von Cyclops, warum man zu den Kostümen zurückkehrt, ist so schlicht und simpel, dass diese Naivität schon fast wieder logisch erscheint: Die Menschen vertrauen den Rächern, den Fantastischen Vier, ihren Superhelden (Spider-Man vielleicht einmal ausgenommen, aber der hat auch keinen guten Pressesprecher)... Superhelden tragen bunte, vertrauenserweckende Kostüme, wenn es die X-Men schaffen, in der Öffentlichkeit in erster Linie als Superhelden angesehen werden, und erst dann als Mutanten, wäre die Akzeptanz auf langer Sicht irgendwann gewährleistet. Ein kühner Akt der Hoffnung, aber wohl nach dem düsteren Kapitel der Morrison-Ära ein nachvollziehbarer und umso notwendiger!
„Mutation... eine Krankheit?“
Die Prämisse des ersten Handlungsbogens, dessen Titel im Original „Gifted“ (talentiert, begabt, beschenkt) lautet, offenbart die größte Bedrohung, die je auf die X-Men, auf die weltweite Gesellschaft der Mutanten losgelassen wurde: Ein Heilmittel gegen das X-Gen!
Dieser Ansatz ist keineswegs neu, gab es in der über vierzigjährigen Geschichte der X-Men immer wieder Schlupflöcher, in denen die Mutationen (für kurze) Zeit ausgeknippst werden konnten. Hier geht Whedon aber den letzten konsequenten Schritt und verspricht durch eine Wissenschaftlerin endgültige Heilung des Mutationsfluches.
Als die X-Men davon erfahren, ahnen sie, worauf dies hinaufläuft: Massenunruhen! Geächtete Mutanten, die darin endlich ihre Chance sehen, „geheilt“ zu werden... Bigotte Menschen, die jetzt die ultimative Waffe im Krieg gegen die Mutanten in ihren Händen wissen.
Und tatsächlich... nie war das Interesse an einem definitiven Ende der Mutanten-„Bedrohung“ grösser! Sogar ein Mitglied der X-Men scheint der Versuchung, die Fesseln seiner Erscheinung loswerden zu können, zu erliegen...
Doch Whedon hätte seine erste Geschichte nicht „Gifted“ genannt, wenn sich darin nicht die Hoffnung verbürge, sich selbst so zu akzeptieren und alle seine Fähigkeiten und phenotypischen Erscheinungen als Geschenk zu betrachten...
„Die Feder ist wahrhaft mächtiger als das Schwert!“
Die größte Stärke von Whedon liegt in seinem „Gift“ (Talent, Begabung, Geschenk), Dialoge so treffsicher zu pointieren, dass jede einzelne Sprechblase zum Schrein für brillanten Wortwitz und Tiefgang transformiert.
Jeder einzelne Charakter wird alleine durch sein gesagtes so wunderbar portraitiert, dass es eine wahre Freude ist, jedem Wortgefecht zu folgen.
Aber auch hier darf man den Anteil von Zeichner Cassaday nicht unterschätzen, der die Protagonisten mit einer kongenialen Mimik ausstattet, dass die Worte nicht nur gelesen, sondern erlebt werden können.
(Ich konnte im Vorfeld bereits einen Script-Auszug lesen – dem Internet sei Dank – ohne die Zeichnungen von Cassaday vorliegen zu haben und muss sagen, ohne visuelle Unterstützung wirkten sie nicht nur lediglich halb so treffsicher sondern auf eigenartige Weise auch total klischeehaft und fade: ein weiterer Beweis, dass man in einem perfekten Comic eine reibungslose Symbiose zwischen Autor und Zeichner benötigt, damit Wort und Bild zu einer harmonischen Einheit verschmelzen.)
Höhepunkte der Wortgefechte bilden die Fehdedialoge zwischen Emma und Kitty. Die beiden halten mit ihrer jeweiligen Meinung nicht hinterm Berg und dieser „Zickenkrieg“ ist eine wahre Wonne. Rasiermesserscharf sezieren sie das Gegenüber und überbieten sich mit jedem Satz.
„Ord vom Ork, oder woher auch immer...!“
Okaaay, wieder eine neue Alienrasse! Ord von Beakworld! Kollaborant in der Herstellung des Heilmittels und eine ganz schön fiese Möpp! Auch hier ist man, wie bei allen Elementen der Handlung, wenn man sie wiedergeben soll, gewillt, Whedon Einfallslosigkeit und Eintönigkeit zu unterstellen. Und irgendwie war ich am Ende auch nicht ganz im Klaren, wohin uns dieser Charakter eigentlich mitnehmen sollte.
Die X-Men sollen in naher Zukunft dafür verantwortlich sein, dass Ords gesamte Rasse ausgelöscht wird. Dieses will er natürlich verhindern und entwickelt zusammen mit obengenannter Wissenschaftlerin das Heilmittel. Hinzukommt eine neuformierte Schattengruppe von S.H.I.E.L.D. mit der aggressiven Abkürzung S.W.O.R.D., die auch noch kräftig mitmischt.
An dieser Stelle kann ich getrost sagen, dass mich die Handlung der ersten 6 Hefte im Grunde recht kalt lässt, wenn man sie auf die Details runterdividiert. Was auch daran liegen kann, dass vielen Handlungsstränge nicht wirklich aufgelöst werden und in versteckten Antiklimax-Cliffhangern auf kommende Handlungsbögen hinweisen.
Aber wie gesagt: In diesen Heften zählt in erster Linie das „WIE“, nicht das „WAS“! Und so bleibe ich gespannt, ob ich der Handlung besser folgen kann, wenn das Gesamtwerk von Whedon und Cassaday vorliegen habe!
„He´s Back!“
Der verschleierte, rote Faden ist aber auch mit Abstand das einzige, was ich den beiden Künstlern und ihren Heften bislang nachhalten kann. Alles andere ist Perfektion in Reinform!
So ist die Auferstehung eines totgeglaubten Ex-X-Man auch in dieser Widersprüchlichkeit zu beleuchten. Einerseits kann ich selbst nach mehrmaligem Lesen nicht mit vollstem kognitiven Verständnis sagen, warum, weshalb oder wieso dieser Fan-Liebling wieder von den Toten auferstand (irgendwie ist er Laborratte in der Entwicklung des Heilmittels gewesen), ein der zwei Fragen sind einfach noch offen! Aber das „WIE“ ist einfach, um mich in Wiederholungen zu ergehen, PERFEKT!
Nicht nur, dass die gesamte Leserschar von der Marketing-Abteilung Marvels zum Narren gehalten wurde – so war kurz vor Erscheinen der Wiederbelebungsnummer (AXM#4) im Internet das hartnäckige Gerücht zu lesen, Jean Grey käme einmal mehr zurück. Ausgelöst wurde dieses Gerücht von Marvel selbst, die Cassaday kurzerhand eine Seite mit Jeans Rückkehr zeichnen ließen, um die Leser auf eine falsche Fährte zu schicken.
Auch ich fiel prompt darauf hinein und ertappte mich schon beim kopfschüttelnden Nase-Rümpfen!
Umso größer war dann die Überraschung am Ende der #4! Und auch hier sei das scheinbar grenzenlose Talent von Cassaday zu erwähnen, der mit nur 4 Paneln Gänsehaut auf meinen ganzen Körper zaubern konnte. Ich saß noch minutenlang mit offenen Mund vor diesen beiden Seiten! Ein Erlebnis, welche kein anderes Comic bislang bei mir auszulösen vermochte...
Und wieder scheint es so, als würde Kitty Pryde einfach nur ein Spiegel sein, in dem ich mich als Leser wiederfinde...
„Quo Vadis...?“
Die Astonishing X-Men sind in meinen Augen die Quintessenz aller bisherigen X-Abenteuer. In ihnen vereint sich all das, was die X-Men zu einer der beliebtesten Franchises im Haus der Ideen werden ließ: vertraute, tiefe Charaktere, kosmische Bedrohungen, eine fette Portion Seifenoper, Zusammengehörigkeit und viel viel Liebe zum Detail! Vergessen sind die langweiligen, schlechtkonzipierten und belanglosen Kapitel der Vergangenheit. Beim Lesen der AXM # 001 - # 006 hatte ich das Gefühl, die X-Men zu verstehen, die X-Men zu fühlen, und all die schönen Erinnerungen aus vergangenen Familienfotoalben erwachten zu neuem Leben.
Und ich bin optimistisch, dass Whedon und Cassaday dieses intensive Gefühl in ihren weiteren gemeinsamen, erstaunlichen Heften fortführen, die glücklicherweise schon bis zur #024 bestätigt wurden!
Henning Mehrtens a.k.a. LEGACY
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