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Sonntag, Juli 24, 2005

Alias: TPB 1

Written by Brian Michael Bendis, art by Michael Gaydos (Marvel). Deutsch: Keine Veröffentlichung.

Ich kenne kaum einen Comic der letzten Jahre, der so hoch gelobt wurde, wie Alias. Es besteht eine nahezu einhellige Meinung, dass dies ein Marvel-Projekt erster Güte war.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Jessica Jones, eine ehemalige Superheldin, die sich nun als Inhaberin der Privatdetektei ALIAS verdingt. Man erfährt viel über ihr Seelenleben. Sie steckt in einer beschissenen Phase ihres Lebens. Alleinstehend wird sie mit den Abgründen der Gesellschaft konfrontiert und ist dadurch fast selbst zu einem Psycho-Wrack geworden. Dennoch ist sie dem Leser auf Anhieb sympathisch, nicht zuletzt weil sie so schön "gegroundet" ist. In ihrer Lethargie ist sie unempfindlich für jedes menschliche Gefühl und doch schlummert tief in ihr Lebenshunger und Gerechtigkeitssinn. Ihre Kerze ist - bildlich gesprochen - noch nicht erloschen. Dass sie sich beim Versuch zu "leuchten" ab und zu verbrennt, z. B. mit einem guten Freund schläft, ist zutiefst verständlich.
Jessica ist keine schöne Frau, sondern so durchschnittlich wie ihr Leben. Obwohl sie versteckte Superkräfte besitzt, gehört sie nicht in die schillerende Welt der Superhelden. Sie fühlt sich dort nicht wohl, und selbst wenn sie mit anderen Superheldenkollegen korrespondiert, tut sie das als gewöhnlicher Mensch. Diese "street level"-Sicht mag nicht jedem gefallen. Ich finde sie beileibe erfrischend.

In der Ungewissheit über Realität und Fiktion erinnert die Geschichte etwas an David Finchers "The Game". Jess soll die verloren gegangene Schwester einer Klientin finden. Bei der Obversation gerät sie in den Besitz eines Videotapes, das Captain Americas zivile Identität offenbart. Dann stirbt die Schwester und Jessica hat Angst zum Bauernopfer einer politischen Verschwörung um die Präsidentschaftswahl zu werden. Man könnte höchstens mit dem Ende der Storyline unzufrieden sein, kulminiert sie in einem phantastischen verbalen Face-Off, um sich dann doch schlagartig in Wohlgefallen aufzulösen.

Die zweite Geschichte handelt von der Suche nach dem früheren Superhelden Rick Jones, der sich einen Namen im Kree/Skrulls-Krieg machte. Dieser nahm "Reiß aus" von seiner Frau und vertreibt sich nun die Zeit mit Musik-Sessions in New Yorker Bars. Ob der verwirrte Ehemann wirklich der berühmte frühere Superheld ist, muss der geneigte Leser selbst herausfinden. In jedem Fall ist die Verquickung von bizzaren phantastischen Elementen und der nachvollziehbaren Sehnsucht einer Ehefrau zu ihrem Mann genial.

Michael Gaydos Artwork verdient das Attribut "düster". Er ist sicherlich kein überdurchschnittlicher Zeichner, doch passt er perfekt zu Bendis Geschriebenem. Dessen Dialoglastigkeit unterstreicht Gaydos durch authentische Gesichtsausdrücke und Aneinanderreihungen von kleinen fast identisch ausschauenden Panels. Daneben splittet er ein Bild in mehrere Panels und erzeugt so ein Puzzle, das der Leser selbst zusammensetzen muss. Erwähnenswert sind auch die auflodernden Detail-Panels von Kleidern, Schmückstücken oder Körpergliedern des Gegenübers. Durch diese Sondierung erfährt der Leser mit Leichtigkeit, was Jessica momentan über ihren Gesprächspartner denkt.
Matt Hollingsworth verdient ebenfalls Beifall für seine Kolorierung, durch die ein finsterer, steiniger Ton erreicht wird. Sogar die Szenen bei Tageslicht erscheinen in farbtropfender Dunkelheit.

Als Erwachsenen-Comic ist Alias weder ein Schmuddelwerk, noch ein intellektueller Erfahrungstripp. Vielmehr sind es gerade Bendis teilweise profanen Dialoge, die der Charakterstudie ihre Glaubwürdigkeit verleihen. Dabei ist die Story weder depressiv noch langsam, sondern spannend und straff. Die Sicht auf ein Superheldenuniversum durch die Augen eines "Normalos" ist gewiss nicht neu, doch war der Blick selten so zynisch und faszinierend. Alias ist kein Superhelden-Comic, sondern ein Comic über Superhelden.

8/10
Philos