Wir sind Philos, Lamond und Seppstock. Hier findet ihr farbenfrohe Bilder, kleine Sprechblasen und unsere Meinung dazu.

Sonntag, Juli 31, 2005

Sleeper Season 1 (TPB 1: Out in the Cold, TPB 2: All False Moves)

Written by Ed Brubaker, pencils by Sean Phillips (Wildstorm). Deutsch: Keine Veröffentlichung.

Es gibt immer wieder Serien, die beinahe unbemerkt durch den Comic-Markt rutschen, ohne dass jemand Notiz von ihnen nimmt. „Sleeper“ ist eine dieser Serien. Las man die Reviews zum Comic, war man immer überrascht, wie gut diese Geschichte zu sein schien und trotzdem wurde man, so ging es zumindest mir, durch die Inhaltsangabe nicht gerade zum Kauf animiert, denn das Spionage-Genre war zu dieser Zeit schon sehr abgedroschen. Hätte Kollege Philos mir nicht immer wieder beharrlich zum Kauf geraten, hätte ich diese Story bis heute noch nicht gelesen. Glaubt mir, das wäre ein gewaltiger Fehler gewesen.

Eigentlich ist die Rahmenstory nichts Neues, ein CIA-Agent wird bei einer kriminellen Organisation eingeschleust und kommt aufgrund widriger Umstände nicht mehr raus. Ich werde jetzt aber nicht sagen, dass diese Story nicht im Vordergrund steht, denn das wäre schlichtweg falsch. Die Agentenstory bildet wie mittlerweile üblich eine von zwei Ebenen und beide sind gleichsam wichtig. Erstaunlicherweise hat mich jedoch dieser aus der „Ich-Perspektive“ erzählte Agententhriller richtig gepackt, und dass obwohl ich mittlerweile gegen Agenten-Stories immun bin. Im Mittelpunkt steht Holden Carver, der von seinem ehemaligen Boss und Meisterspion John Lynch in eine kriminelle Geheimorganisation eingeschleust wird. Leider kann er nicht mehr in sein altes Leben zurück, denn eben dieser Lynch war der einzige, der von Carvers Doppelrolle wusste und dieser liegt nun seit Jahren in einem tiefen Koma. In dieser scheinbar hoffnungslosen Situation verliert sich Agent Carver allmählich in seiner Rolle und zweifelt an seinem ursprünglichen Ziel. Was für Optionen stehen im noch offen? Soll er sich für eine sichere aber verwerfliche Existenz als Gangster entscheiden oder für ein edles Ziel sein Leben riskieren. Immer wieder steht er vor kritischen Entscheidungen, doch was er auch tut, die Frage bleibt und nur er kann sie beantworten: Als Verbrecher leben oder als Held sterben?

Neben dieser im Vordergrund stehenden Spionagestory widmet sich Brubaker der Moral als soziologisches Phänomen. Was ist Moral? Seine Antwort: Moral ist ein rein subjektives Konstrukt, das sich jeweils der konkreten Situation anpasst. Schliesslich würden die wenigsten von sich behaupten, sie seien böse, selbst wenn sie gerade einen Völkermord angeordnet hätten. Der Mensch hat ein Talent dafür, sein Verhalten argumentativ so hinzubiegen, dass es mit seiner Moralvorstellung in Einklang steht. Und genau deshalb kann es vorkommen, dass jemand wie Holden, der sich seit Monaten in Mitten von Mördern und Kriminellen tummelt, tiefe Freundschaften zu eben diesen knüpft. Sein neuer bester Freund, „Genocide“, legt durch seine bedingungslose Loyalität eine Brüderlichkeit an den Tag, die Holden zu Tiefst berührt. Er kann sich seiner Zuneigung zu diesem Mörder und Verbrecher nicht verwehren, denn so künstlich und aufgesetzt unsere Wertvorstellungen sind, so authentisch und unkontrollierbar sind unsere Emotionen. Doch als wäre das nicht genug verliebt sich Holden in eine Frau, die Böses tun muss um zu überleben. Miss Misery, so ihr Code-Name, war ursprünglich ein Musterbeispiel an Tugendhaftigkeit. Doch eines Tages erkrankte sie plötzlich: sie musste sich ständig übergeben, litt unter Fieberschübe und konnte kaum mehr atmen. Als sie im Fieberwahn einen Krankenpfleger niederschlug, ging es ihr nach wochenlangen Leiden plötzlich wieder erheblich besser. Und so stellte sich heraus, dass die „liebe“ Misery gezwungen war „böse“ zu sein, um gesund zu bleiben. Auch diese Figur ist ein sarkastischer Seitenhieb auf die gesellschaftliche Doppelmoral, mit der wir in unseren westlichen Gesellschaften nur all zu oft konfrontiert sind.

Ed Brubaker ergründet in „Sleeper“ auf äusserst unterhaltsame und unbeschwerte Weise die Abgründe der menschlichen Verfassung und zwar ohne dabei dem zynischen Pessimismus zu verfallen, der bei Autorenlegenden wie Alan Moore oder Frank Miller nur all zu oft die Regel bildet. Beim Lesen hat man stets ein positives Gefühl und trotzdem schafft es der Autor einem vor Augen zu führen, wie lächerlich und absurd die von uns auferlegten Moralstandards manchmal wirken, vor allem wenn wir sie in einem Moment hochhalten um sie im nächsten mit Füssen zu treten. Versteht mich nicht falsch, „Sleeper“ beklagt nicht den Mangel an Moral, sondern den Umgang mit ihr. Es ist insgesamt weniger eine Kritik als vielmehr eine Studie des menschlichen Verhaltens. Dass dieser Aspekt am Comic funktioniert, erkennt man daran, dass man Sympathien für Figuren entwickelt, die gemäss Beschreibung verachtenswert sein müssten. „Sleeper“ ist deshalb ein subtiles Spiel mit unserer Wertwahrnehmung.

Einen wesentlichen Beitrag zu dieser ergreifenden Comic-Erfahrung leistet Sean Philips durch seine leicht impressionistisch angehauchten Zeichnungen. Vieles wird durch Schatten angedeutet und trotzdem hat man als Betrachter nie das Gefühl etwas nicht nachzuvollziehen zu können, denn die emotionale Präzision der Erzählung paart sich mit der intensiven Stimmung der Panels. Die Symbiose zwischen Erzählung und Zeichnung wirkt einerseits fiebrig, anderseits kühl und präzise. Was soll ich noch sagen? Bei dieser Serie wird das Lesen zur Erkenntnis und die Spannung zur Erlösung, denn „Sleeper“ ist nicht nur ein Meilenstein der Comic-Geschichte, sondern ein Aushängeschild für intelligente Unterhaltung.

10/10
Lamond