Wir sind Philos, Lamond und Seppstock. Hier findet ihr farbenfrohe Bilder, kleine Sprechblasen und unsere Meinung dazu.

Sonntag, September 04, 2005

The Sentry TPB

Written by Paul Jenkins, pencils by Jae Lee (Marvel). Deutsch: „Sentry“ (PaniniComics Deutschland).

„…solltest sie unbedingt mal lesen“, hörte ich den höchsten 12-jährigen Jungen neben mir sagen. „Wie meinen?“, gab ich genervt zurück. „Ich sagte SENTRY. Diesen Comic solltest du unbedingt lesen“, wiederholte er. „Schon gut, wie du meinst.“, quittierte ich seinen Rat etwas brüsk. Ein Jahr sollte von diesem Zeitpunkt an vergehen, bis ich wieder diesem Namen begegnete: „SENTRY“. Ein Forum-User (ein königlicher in der Tat) legte mir diesmal diese Mini-Serie nahe. Meine Neugier war geweckt, ich bestellte den Band, trotz meiner Vorurteile gegenüber Paul Jenkins, der mir bei seiner Serie „Spectacular Spider-Man“ nicht wirklich ans Herz gewachsen war.

Bob Reynolds ist ein richtiger Mann. Nein, nicht einer dieser Waschlappen, die ihre Zeit damit vergeuden, Online-Comic-Reviews zu schreiben. Bob Reynolds achtet nicht auf sein Gewicht, er schert sich einen Dreck um die Situation im nahen Osten und trinkt auch mal einen über den Durst. Doch es sind meistens gewöhnliche Menschen, denen Ungewöhnliches widerfährt.
Als er eines Tages mitten in der Nacht von einem seltsamen Geräusch geweckt wird, überfällt sie ihn wieder, diese Angst, diese unendliche Leere. Dieses Gefühl ist ihm nicht unbekannt. Er fürchtet sich nicht vor der bevorstehenden Bedrohung, sondern vor der Gewissheit, dass er die letzte Hoffnung der gesamten Menschheit ist und nicht weiss, was er tun soll. Erinnerungsfetzen erscheinen vor seinem geistigen Auge, doch nicht lange genug als dass er einen Sinn dahinter erkennen könnte. Ein Mann in einem goldenen Kostüm…eine blaues Cape…ein Held, nein nicht nur ein weiterer Held, DER Held. Was soll das alles? Doch tief in seinem Inneren hat er es schon immer geahnt: Er ist der grösste Held, den die Menschheit je gesehen hat (Denken wir das nicht alle manchmal?), er ist „the golden guardian of good“, er ist „SENTRY“. Doch wieso kann sich niemand daran erinnern? Seine Heldentaten haben die Menschheit mehr als einmal vor dem endgültigen Ende gerettet, es kann doch nicht sein, dass keiner mehr davon weiss. Als ihn am selben Abend seine in Tränen aufgelöste Ehefrau verlässt, beginnt er jedoch zu zweifeln. Spielt ihm sein Verstand einen Streich, ist das womöglich die grösste Midlifecrisis der Welt? Ist er vielleicht völlig verrückt? Nun ist sie weg, seine geliebte Lindy, und er hat nichts mehr zu verlieren. Er macht sich auf die Suche nach seinen alten Gefährten, seinen ehemaligen Freunden. Sie werden schon wissen, was los ist.

Es handelt sich bei diesen sogenannten Freunden um Leute wie Reed Richards, Doctor Strange und Captain America. Doch als er vor Reed steht und ihn zur Rede stellte, wird er nicht erkannt. Reed merkt jedoch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist als würde ihn eine mentale Blockade verbieten, sich an diese Person zu erinnern. „Streng dich an Reed, erinnere dich“, fordert ihn Bob auf. Was er als Antwort bekommt, ist jedoch nicht das, was man normalerweise von einem Unwissenden zu hören bekommt: „Ich kann nicht…ich…ich darf nicht“. Als Reed an diesem Abend nachhause kommt findet er eine alte Videokassette auf dem Tisch. Er schiebt sie in den Video-Recorder und drückt auf "Play". Was er jedoch zu sehen bekommt, wird nicht nur ihn erschüttern: „Reed, wenn du diese Aufnahme siehst, ist alles verloren und ihr seit alle so gut wie tot, es gibt keine Hoffnung mehr für die Menschheit.“ Wer spricht diese beängstigenden Worte auf dem Videoband? Kein geringerer als er selbst, Reed Richards.

Ich kann mir vorstellen, dass ihr nach der Lektüre des letzten Abschnitts etwas verwirrt seid. Doch auf dieser Ebene funktioniert dieser Comic, der Leser liegt immer ein Schritt zurück und wird immer wieder von schockierenden Erkenntnissen überrascht. Es ist eine beinahe unerträgliche Spannung, die es einem nicht erlaubt den Comic auch nur eine Sekunde niederzulegen. „Sentry“ ist nicht einfach Marvels Vorstellung von Superman, obwohl die Parallelen offensichtlich sind. Nicht der Held, sondern die Geschichte steht im Vordergrund. Der Comic beinhaltet einige Elemente, die man aus anderen Comics und sogar TV-Serien kennt. Teilweise fühlt man sich von der Stimmung her an „Lost Highway“ erinnert, manchmal erinnert Jenkins Spiel mit den Erinnerungen und Déja-vus an Warren Ellis’ „Planetary“. Als Leser ist man gefesselt, man beisst sich die Finger Wund, man zittert und bangt, man lacht. Sentry ist nicht einfach ein weiterer Comic, Sentry ist ein wahres Meisterstück, ein Medienspiel erster Güte.

Jenkins Erzählweise hat ihn in meinen Augen mehr als nur rehabilitiert. Mit welcher Eleganz er das Spiel mit der Zeit und den Rückblenden inszeniert, wie zerbrechlich er den unbesiegbaren Helden charakterisiert kann ich nur als einen Geniestreich bezeichnen. Ihm zur Seite stand Jae Lee, dessen Zeichnungen sehr aussergewöhnlich und für einige wohl auch gewöhnungsbedürftig sein dürften. Die Bilder wirken düster und bedrückend. Doch sein Stil passt perfekt zu dieser Geschichte, denn als Leser kann man die Angst förmlich spüren und die klaustrophobische Endzeitstimmung droht einen vor Spannung manchmal zu zerreissen. Ihr merkt wahrscheinlich, dass es mir schwer fällt aus dem Schwärmen herauszukommen. Entsprechend fällt mein Fazit aus:
Epochales Comic-Erlebnis, dass alle Erwartungen übertrifft und in keiner seriösen Comic-Sammlung fehlen darf. Damit hätte ich eigentlich meine Besprechung abgeschlossen, aber da war noch was, dass ich euch bezüglich Sentrys unmittelbarer Zukunft im Marvel Universum mitteilen wollte. Moment ich hab’s gleich…ich…ich kann mich nicht erinnern…ich DARF nicht.

10/10