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Sonntag, Januar 21, 2007

Der Turm

Die Reise zum Ich - Ein Kommentar zu „Der Turm“

Der Turm (orig. Les cités obscures: La tour), Text: Benoît Peeters, Zeichnungen: Francois Schuiten, Reiner Feest Verlag, Softcover, 96 Seiten, ISBN: 3-89343-152-7.

In einer Deutscharbeit würde unter diesem Text stehen „Thema verfehlt“. Warum? Nun, eigentlich sollte hier an dieser Stelle eine Text zu Mike Allred und seinen Werken stehen, aber wie das Leben so spielt, kam mir etwas dazwischen.

Aus einer Laune heraus erstand ich kurz nach Weihnachten den Band „Der Turm“ (Feest Verlag) von dem belgischen Zeichner Francois Schuiten und dem in Frankreich geborenen, aber bereits seit 1978 in Belgien lebenden Benoit Peeters, eine Geschichte aus deren Reihe „Die geheimnisvollen Städte“. Ich hatte zuvor weder etwas aus dieser Reihe, noch überhaupt etwas von Schuiten und/oder Peters gelesen, aber bereits viel von den „Geheimnisvollen Städten“ gehört. Besonders „Der Turm“ wurde mir immer wieder an Herz gelegt... und das nicht ohne Grund...

Giovanni Battista (benannt nach Schuitens Vorbild Giovanni Battista Piranesis) ist Instandhalter in einem Bezirk des Turms. Er trägt Sorge dafür, dass sein Bereich intakt bleibt und nicht verkommt. Eine harte und einsame, aber notwendige Aufgabe in diesem gigantischen, von Menschen errichteten, Bauwerk, welches vielleicht schon seit Jahrhunderten beständig gen Himmel wächst.
Nachdem ein neues Stockwerk fertiggestellt ist, wird es von den Pionieren verlassen und ein Instandhalter, wie Giovanni, wird eingesetzt, der allein zurückbleibt und durch seine Arbeit sicherstellt, dass der „Körper“ des Turms erhalten bleibt, während er sich immer weiter in den Himmel streckt.

Giovanni erfüllt diese Aufgabe nun schon seit Jahrzehnten. Es ist Jahre her, dass er einen anderen Menschen gesehen hat und er kennt kein anderes Leben mehr als dieses. Er ist etwas verschroben, führt Selbstgespräche und hofft, dass bald ein Aufseher vorbeikommt, damit er ihm klagen kann. Denn Giovanni ist mit den anderen Instandhaltern (die er teilweise nie, und wenn überhaupt, dann zuletzt vor Jahren, getroffen hat) unzufrieden. Sein Bezirk leidet immer mehr unter dem Zahn der Zeit, und daran muß einfach auch die schlechte Arbeit der anderen Instandhalter schuld sein.

Wir lernen Giovanni kennen, kurz bevor er sich zur Basis aufmacht. Kommt der Aufseher nicht zu ihm, muß er wohl zu ihm gehen. Mit dieser simplen Erkenntnis beginnt eine fantastische und epische Reise, nicht nur zum Gipfel, dem Kern und der Basis des Turms, sondern auch zum Intellekt, zum Herzen und zur Seele Giovannis.

Der Turm ist in der Erzählung ein Sinnbild für das Streben des Menschen sich selbst zu entdecken, zu entfalten, aber auch zu erhöhen. Und er wird auch zum Sinnbild von Giovannis Entwicklung. Dieser dicke, bärtige und gemütliche Mann entdeckt seine eigene Intelligenz, Liebe und sein wahres Wesen, während er erst von Frustration und dann von Neugier getrieben den Turm erforscht. Und mit ihm erforschen wir als Leser so das Potential des Menschen und auch die Gefahren, die damit einhergehen.

Das klingt nun alles furchtbar hochtrabend und nach einer anstrengenden Lektüre, aber oberflächlich betrachtet ist „Der Turm“ vor allem eine faszinierende und spannende Abenteuergeschichte, die mit allerlei Entdeckungen im und über den Turm lockt.
Doch wie es sich für eine wirklich gute Geschichte gehört, bietet sie unter der Schale ein wahres Füllhorn an Anregungen zum Nachdenken.

Und wie es sich für einen guten Comic gehört, wird das epische Szenario Peeters´ (der neben Comic-Szenarien auch Romane, Essays, Sachbücher und Hörspiele verfaßt) von grandiosen Zeichnungen begleitet.

Schuiten bietet nicht nur die faszinierenden architektonischen Glanzleistungen, für die er bekannt ist (und die ihm als Sohn einer Architektenfamilie aus Brüssel praktisch in die Wiege gelegt wurden), sondern versteht es auch die Menschen liebevoll und oftmals dominant in den erdrückenden Giganten von einem Turm einzubringen. Ob kahles, verwittertes Mauerwerk, dschungelartige Vegetation oder von Menschen überlaufene Städte, ob primitives Werkzeug, Teleskope, Bücher oder Laborgeräte, Schuiten ist offensichtlich ein Meister seines Faches und somit wird „Der Turm“ allein auf visueller Ebene schon viele Leser für sich gewinnen können.

Der Turm ist ein Album im besonderen Format. Auf über einhundert Seiten entfaltet sich die Handlung vorrangig in Schwarz-Weiß-Zeichnungen, welche oftmals an den späten Dave Sim erinnern, mit vereinzelten Farbseiten. Das Geheimnis der Farbseiten ist eine Entdeckung für sich, die ich dem geneigten Leser überlasse.

Ebenso wie Giovanni entschlüsselt der Leser Stück für Stück die Rätsel des Turms. Es war eine wundervolle und aufschlussreiche Reise für mich, und ich werde in Zukunft mit Sicherheit noch mehr der „Geheimnisvollen Städte“ besuchen.

Zu guter Letzt hoffe ich, dass dieser Kommentar den einen oder anderen ebenfalls dazu anregt seinen festgesteckten Bezirk zu verlassen, um mit „Der Turm“ ein neues Stück des großen Mediums Comic für sich zu entdecken.

"Der Turm" ist 1988 erstmals im Feest Verlag erschienen und wird bereits seit längerem nicht mehr nachgedruckt. In gut sortierten Comic-Läden oder über private Wege sollte er allerdings noch relativ leicht zu erstehen sein.

Seppstock